Der Mann mit zwei Gesichtern

Bericht von Bianca Theus / AZ

Aargauer Zeitung / MLZ; 20.01.2004; Seite 2 Wohlen

Der Mann mit zwei Gesichtern

PORTRÄT · Rocco Cipriano, Kickbox-Weltmeister und zärtlich liebender Vater und Gatte

Rocco Cipriano hat am vergangenen Samstag zwei Dinge erreicht. Er wurde Weltmeister im Kickboxen und begeisterte ausserdem ein breit gemischtes Wohler Publikum für diese anspruchsvolle Sportart.

bianca theus
Ehrlich gesagt, tut mir alles weh. Ich fühle mich wie ein ausgewrungener Bodenlumpen.» Es ist Montagmittag, Rocco Cipriano, frisch gebackener Kickbox-Weltmeister, gibt an seinem Arbeitsort, der Nagra in Wettingen, ein Interview. Dem Kickboxer sind keine äusserlichen Spuren des Kampfes vom Samstag anzusehen. Abgesehen von einem ganz kleinen Kratzer auf der Nase, der ebenso gut vom Rasieren oder dem Spiel mit einer kleinen Katze stammen könnte. «Es ist nicht die körperliche Anstrengung. Der mentale Druck, die Spannung während des Kampfes, übeträgt sich jeweils auf den Körper und wenn alles vorüber ist, bin ich dann hundemüde», sagt Cipriano. Der Kampf vom Samstag war für Rocco Cipriano nicht besonders hart: «Fatih Kademlioglu ist schon in der ersten Runde mental zusammengebrochen. So ein Kickbox-Kampf ist ein Spüren, eine instinktive Sache. Es ist wie ein Spiel, in dem es gilt, die Schwächen und Stärken auszuloten.»

Ciprianos Eltern sind vor rund 40 Jahren aus Avelino bei Neapel nach Wohlen gekommen, um zu arbeiten. Ihre Tochter, Gery, liessen sie bei den Grosseltern. Auch Rocco, der in Muri geboren wurde, lebte die ersten zehn Jahre bei seinen Grosseltern in Campanien. «Sie waren meine eigentlichen Eltern, zu denen ich auch heute noch eine enge Beziehung habe», sagt Cipriano. Als er in Wohlen in die dritte Klasse kam, sprach er kein Wort Deutsch. «Das war hart. Es waren im Gegensatz zu heute auch nur ganz wenige fremdsprachige Kinder in der Klasse. «Ich habe mich schnell eingelebt. Ich war immer gern in Wohlen.» Cipriano besuchte die Sekundarschule, absolvierte dann eine Lehre als Automonteur und schliesslich noch eine Handelsschule.

Das Kickbox-Training begann er 1988 als 20-Jähriger bei Luciano Picariello in Mellingen. Mit ihm gründete er 1991 die Kickboxing-Schule in Wohlen, in welcher, als Cipriano verletzt war, auch Andy Hug unterrichtete. Dieser trainierte mit der Karate-Nationalmannschaft während zweier Monate in den Wohler Räumlichkeiten. «Da durfte ich mittun und habe unendlich viel lernen können», erinnert sich der Champion, der auch dreifacher Schweizer Meister im Boxen ist. Sport ist Ciprianos Leidenschaft. Er spielte Fussball in der 1. Juniorenmannschaft Wohlen, machte Leichtathletik und Judo. Für den Kampfsport hat er sich entschieden, weil es eine Lebens- und Charakterschule ist. Cipriano ist fasziniert vom direkten Zweikampf. «Man ist auf sich selbst gestellt, es braucht Willenskraft und Durchhaltevermögen. Ich muss mit dem ganzen Herzen dabei sein, sonst hab ich keine Chance. Körper und Geist müssen eine Einheit bilden.» Seinen Schülern gibt er auf den Weg: «Kein Widerstand ist zu gross. Man kann daran arbeiten, dass man stärker wird, so wird auch der Widerstand schwächer.»

Seit Januar 1992 ist Rocco Cipriano mit seiner Frau Giusi zusammen. Sie heirateten vor bald vier Jahren, ihr Sohn Roy, den Cipriano unendlich süss findet, ist 15 Monate alt. «Ich habe es gern, wenn die beiden mich, sooft es möglich ist, zu den Wettkämpfen begleiten», sagt der Sportler. «Liebe kann man nicht mit Kampfsport vergleichen», entgegnet er, danach gefragt, ob seine mentale Stärke auch dort zum Tragen komme. «Meine Frau ist mental und charakterlich sehr stark. Sie weiss sehr genau, was sie will. Privat gebe ich eher nach. Im Ring allerdings bin ich sehr engstirnig und unerbittlich.»
Weltmeister Rocco Cipriano freut sich über den gewonnenen Titel.

 

bianca theus
Der Kampf ist ein instinktives Spiel Mann gegen Mann
Liebe kann man nicht mit Kampfsport vergleichen

Siegerehrung Cipriano (Mitte) und sein unterlegener Gegner Kademioglu.